September 2011 - Ausgabe 130
Legenden der 60er
Rosi und die Muscheln von Alf Trenk |
Foto: Alf Trenk
Rosi und die dicke Inge - so überliefern es uns sowohl die Fama wie auch Robert Wolfgang Schnell in seinem Roman »Geisterbahn« -, trieb es eines schönen Tages aus ihrem angestammten Revier im Berliner Norden nach Kreuzberg. Dort kam es zu einer schicksalhaften Begegnung zwischen Rosi und dem Trödler Kurt Mühlenhaupt, die erotisch recht erfolgreich, geschäftlich indes zum ausgemachten Reinfall wurde. Der geschäftliche Abstieg begann bereits mit dem Tage, da Kurt sie zur Chefin seines gerade gegründeten Leierkasten machte, benannt nach jener, von einem Mitglied des berühmten Bacigalupo-Clans gefertigten, pneumatisch gesteuerten Notenrollen-Drehorgel, mit der er streckenweise seine Brötchen verdient hatte. Wenn die nächtliche Stimmungslage unter einen gewissen Promillewert fiel, drehte er zur Wiederbelebung virtuos die Kurbel. Dennoch umfing an manchen Wochentagen den einsamen Gast die Ruhe des benachbarten Jerusalemer Friedhofs. So auch an jenem Dienstag. Man konnte sie fast von draußen spüren. Der Schankraum war gähnend leer! Aber doch nicht -oder trogen mich meine Augen? - der Platz an der Theke! Wann hatte Rosi je ihren Kommandostand verlassen? Aus einem nahen Türspalt drangen merkwürdig schabende Geräusche, ein trüber Lichtschimmer und ein starker Geruch, der an salzige Lauge erinnerte. Irgendetwas stimmte nicht, ich war überzeugt, einem Kapitalverbrechen auf der Spur zu sein und schlich vorsichtig näher. Im nächsten Moment vernahm ich Rosis vertrautes Organ: »Wer issen da? Wat tappste da herum? Komm’ doch jefällichst rin!« Der Anblick, der sich mir bot, verwandelte meine bösen Ahnungen in schiere Verblüffung. Rosi saß, mit einem Messer bewaffnet, inmitten zweier Zinkwannen voller Miesmuscheln, die zu drei Vierteln darauf warteten, geputzt zu werden. »Hat et sich nich rumjesprochen?«, empfing sie mich, »Ick mach’ doch heute ’n Muschelessen! Die Suffköppe sollten’s weitersagen, aba da war’nse wohl überfordert! Is jut, dass du wenigstens da bist, kannst mir schrubben helfen.« Also saßen wir da und schrubbten wie die Verrückten. Ich vereinfachte die Prozedur, indem ich ein Drittel der Schalentiere gleich dem Magen überantwortete. Da sagte Rosi nachdenklich: »Hast du eijnklich ’ne Ahnung, wat mit die Muscheln is, die nich so janz auffjehen?« Ich hatte sie nicht, spürte aber im selben Moment eine merkwürdige Magenbeklemmung. Um Mitternacht erschienen noch zwei Gammler. Sie waren ebenfalls ahnungslos, aber langten kräftig zu. Soviel ich weiß, haben wir es alle überlebt. • |